Überblick
Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) ist das wichtigste Steuerungsinstrument im solidarisch geprägten Finanzverteilungssystem der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-System).
Er wurde mit der Zielsetzung eingeführt, unter den gesetzlichen Krankenkassen Risiken auszugleichen, die diese nicht zu vertreten haben, den Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen damit gerechter zu gestalten und gleichzeitig die Effizienz und Qualität der gesundheitlichen Versorgung aller Versicherten zu verbessern. Heute werden ca. 200 Mrd. Euro für die medizinische Versorgung von rund 70 Mio. bei derzeit rund 120 gesetzlichen Krankenkassen versicherten Bundesbürgern über den Morbi-RSA verteilt. So sollen die Krankenkassen unabhängig von der Risikostruktur ihrer Versicherten die gesundheitliche Versorgung gewährleisten können. Hierbei kommt das Solidarprinzip der GKV zur Anwendung, das auf drei Säulen basiert: 1. Der Regelbeitragssatz für alle Mitglieder; 2. Die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen; 3. Die gleiche Beitragshöhe unabhängig von Alter und Gesundheitszustand.
Zu diesem Zweck werden Beitragsgelder der Mitglieder und weitere Einnahmen im Gesundheitsfonds gesammelt und dann über den Mechanismus des Morbi-RSA an die Krankenkassen verteilt.
Entwicklung des Morbi-RSA: Meilensteine
1994
Einführung eines Risikostrukturausgleichs (RSA), basierend auf den Faktoren Alter, Geschlecht, und Erwerbsunfähigkeit (nur indirekte Erfassung der Morbidität), zunächst nur für die „Allgemeine Krankenversicherung“, d.h. ohne die Krankenversicherung für die Rentner (KVdR)
1995 Abschaffung des KVdR-Belastungsausgleichs (Ist-Kostenausgleich für Rentner)
1996
Abschaffung des Zuweisungsprinzips und Einführung der Wahlfreiheit von Krankenkassen und damit Einführung eines Wettbewerbs im GKV-System
2002
Einführung des Risikopools als ergänzender Finanzausgleich für Hochkostenfälle (2009 im Zuge der Einführung des Morbi-RSA wieder abgeschafft)
2003-2008
Ergänzung des RSA durch die Berücksichtigung von strukturierten Behandlungsprogrammen (sog. Disease-Management-Programme, DMP) als Grundlage einer gesonderten Finanzierung
2009
Einführung des Gesundheitsfonds und Weiterentwicklung des RSA zum Morbi-RSA (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, GKV-WSG)
2013
Anpassung der Ausgaben für verstorbene Versicherte (gemäß Rechtsprechung) und
Einführung einer Übergangslösung für die Berechnungen der Zuweisungen für
Krankengeld und Auslandsversicherte
2015
Einführung eines vollständigen Einkommensausgleichs zwecks Flankierung der Erhebung einkommensbezogener, kassenindividueller Zusatzbeiträge (GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz, GKV-FQWG)
Funktionsweise des Morbi-RSA
Der Morbi-RSA ist ein Finanzausgleichsverfahren, durch das die unterschiedlichen Versichertenstrukturen der verschiedenen Krankenkassen ausgeglichen werden. Vom Gesundheitsfonds erhalten die Krankenkassen über den Morbi-RSA Zuweisungen für die Deckung ihrer Ausgaben und die Versorgung ihrer Versicherten. Die Gelder werden anhand von Morbidität, Alter und Geschlecht der Versicherten verteilt. Zusätzlich werden noch folgende Faktoren bei den Zuweisungen berücksichtigt: Bezug einer Erwerbminderungsrente, Wohnort im Ausland, Wahl der Kostenerstattung, Krankengeldanspruch und/oder Einschreibung in ein DMP. Für diese Tatbestände erhält die jeweilige Krankenkasse eine gesonderte Zuweisung.
Jeder Versicherte wird anhand von Alter und Geschlecht verschiedenen Risikogruppen, den sog. Alters- und Geschlechtsgruppen (AGG), zugeordnet. Die Krankenkassen erhalten dann einen standardisierten Betrag für jeden Versicherten gemäß der zugehörigen AGG.
Die Morbidität ist eine statistische Größe, die als Krankheitshäufigkeit der Versicherten definiert wird. Für die Kostenabdeckung sind die durchschnittlichen Behandlungskosten von entscheidender Bedeutung: Es wird also kein voller Ausgleich für tatsächliche Leistungsausgaben (Ist-Kosten-Ausgleich), sondern für standardisierte Durchschnittsausgaben durchgeführt.
Gemäß SGB V bestimmen 50 bis 80 kostenintensive, chronische Krankheiten mit schwerwiegendem Verlauf die Morbidität eines Versicherten, die anhand von ambulanten und stationären Diagnosen sowie Arzneimittelverordnungen definiert werden.
Diese Krankheiten wurden zum ersten Mal am 29.05.2008 durch das Bundesversicherungsamt (BVA) für das Ausgleichsjahr 2009 bestimmt und werden seitdem durch den Wissenschaftlichen Beirat des BVA regelmäßig überarbeitet, basierend auf einem Schwellenwert, der Krankheitsschwere, der Chronizität und der Kostenintensität. Der Grenzwert für die Kostenintensität wurde seit dem Ausgleichsjahr 2009 immer so gewählt, dass mit 80 Krankheiten immer der maximale Rahmen von 50 bis 80 Krankheiten ausgeschöpft wurde.
Zur Unterscheidung von Schweregraden einer Krankheit und ihrer finanziellen Bewertung werden enger abgegrenzte Diagnosegruppen als hierarchisierte Morbiditätsgruppen (HMG) zusammengefasst. Dies geschieht anhand des Klassifikationsmodells des Morbi-RSA, das regelmäßig durch das BVA überarbeitet und jeweils zum 30. September für das Folgejahr festgelegt wird. Die Zahl der HMG ist nicht gesetzlich festgelegt. Mittlerweile liegt die Anzahl der HMG bei knapp 200 (Stand: September 2015).
Im Rahmen des Klassifikationsmodells des Morbi-RSA unterliegen ambulante Diagnosen strengeren Maßstäben als die Diagnosen eines Krankenhausaufenthaltes, da diese grundsätzlich als belastbarer angesehen werden. Ambulante Diagnosen müssen „gesichert“ sein, d.h. ein „Verdacht“ reicht für die Einstufung in eine Morbiditätsgruppe nicht aus. Zudem gibt es vielfach weitere Voraussetzungen, z.B. passende Arzneimittelverordnungen oder die Wiederholung von Diagnosen.
Anhand des Klassifikationsmodells des Morbi-RSA können Versicherte keiner, einer oder mehreren HMG zugeordnet werden – im Gegensatz zu den Kriterien Alter und Geschlecht, die immer Anwendung finden. Es wird einem Versicherten jeweils immer die teuerste HMG innerhalb einer Erkrankung zugeordnet. Jede Morbiditätsgruppe kann innerhalb eines Jahres maximal einmal zugeordnet werden, auch wenn die Diagnose mehrfach erfolgt ist. Zur Sicherung der Einnahmen sind die Krankenkassen somit angehalten, die Diagnosen entsprechend zu melden. Die Gefahr besteht, dass das beabsichtigte Ziel eines Versorgungswettbewerbs zu einem nicht beabsichtigten Wettbewerb der besten Diagnosedokumentationen wird.
Das Klassifikationsmodell des Morbi-RSA ist ein prospektives Verfahren, d.h. die Zuweisungen, die eine Krankenkasse über den Morbi-RSA erhält, sollen nicht die laufenden Behandlungskosten, sondern die durch eine bestimmte Krankheit entstehenden Folgekosten abdecken. So wird für jede HMG geprüft, welche Ausgaben durchschnittlich für Versicherte mit einer bestimmten Diagnose im Jahr nach der Diagnostizierung entstanden sind. Hiermit sollen Manipulationsanreize, z.B. Anreize für medizinisch nicht gerechtfertigte Leistungsausweitungen, vermieden werden und stattdessen Anreize für Kostenmanagement und wirtschaftliches Handeln gesetzt werden.
Leistungsausgaben der Krankenkassen, die nicht durch die HMG abgedeckt werden, z. B. Akutbehandlungen und zahnärztliche Behandlungen, werden durch die AGG abgedeckt.
Umsetzung des Morbi-RSA: Der Gesundheitsfonds
Der 2009 eingeführte Gesundheitsfonds sammelt die Beitragseinnahmen der GKV ein und schüttet diese über den Morbi-RSA wieder aus. Neben den GKV-Beitragseinnahmen erhält der Gesundheitsfonds einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss, der politikabhängig schwankt.
Entwicklung der Bundesbeteiligung

Seit 2009 gilt bundesweit ein allgemeiner, paritätischer und vom Gesetzgeber festgelegter Beitragssatz. Seit 2015 beträgt dieser 14,6% der beitragspflichtigen Einnahmen, der je zur Hälfte vom Arbeitgeber und vom Versicherten getragen wird. Zusätzlich kann jede Krankenkasse bei entsprechendem Finanzbedarf einen kassenbezogenen, einkommensabhängigen Zusatzbeitrag festlegen, der von den Versicherten alleine getragen wird. Diese Einnahmen dienen dazu, die Ausgaben der Krankenkassen, die nicht durch den allgemeinen Beitragssatz gedeckt sind, zu finanzieren. Diese Zusatzbeiträge werden über den Gesundheitsfonds wieder an die Krankenkassen ausgezahlt. Allerdings unterliegt der Zusatzbeitrag einem Ausgleich, für den nicht die kassenindividuellen, beitragspflichtigen Einnahmen, sondern die durchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen in der GKV zugrunde gelegt werden. Dies hat zur Folge, dass die Kassen, die einen Zusatzbetrag erheben und deren beitragspflichtige Einnahmen über den durchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen in der GKV liegen, diesen nicht im vollen Umfang über die Zuweisungen des Gesundheitsfonds wieder zurückbekommen. Erhebt hingegen eine Kasse einen Zusatzbeitrag, deren beitragspflichtige Einnahmen unter den durchschnittlichen Einnahmen in der GKV liegen, erhält diese mehr Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds, als sie über den Zusatzbeitrag eingenommen hat.
Funktionsweise des Gesundheitsfonds

Das BVA verwaltet den Gesundheitsfonds als Sondervermögen und ist zuständig für die Zuweisungen an die Krankenkassen. Diese setzen sich aus zwei Segmenten zusammen:
Segment 1: Zuweisung der Finanzierungsmittel
• 94,6%: Zuweisung zur Deckung der Pflichtleistungen (sog. Berücksichtigungsfähige Leistungsausgaben)
• 4,8%: Zuweisung zur Deckung von Verwaltungsausgaben
• 0,6%: Zuweisung für Satzungs- und Ermessensleistungen
Segment 2: Anpassungsbeitrag zum vorab festgelegten Ausschüttungsvolumen des Gesundheitsfonds
Zufluss und Abfluss der Zusatzbeiträge

Der Gesundheitsfonds ist so konstruiert, dass auf der Ebene der Gesetzlichen Krankenversicherung immer eine exakte Ausgabendeckung erfolgt. Auf der Ebene der Einzelkassen kommt es jedoch regelmäßig zu Unter- und Überdeckungen. Ein Überschuss wird erreicht, wenn die jeweilige Zuweisung (siehe oben, ohne die mitgliederbezogene Veränderung) die jeweiligen Ausgaben übersteigt, bei einem Defizit liegt der umgekehrte Fall vor.
Über den Anpassungsbeitrag (mitgliederbezogene Veränderung) wird erreicht, dass das in jedem Jahr vorher festgelegte Ausschüttungsvolumen erreicht wird: Die Krankenkassen bekommen eine zusätzliche Zuweisung, wenn die vorab garantierte Gesamtzuweisung des Gesundheitsfonds die Gesamtausgaben in der GKV übersteigen. Im umgekehrten Fall wird der Betrag, um den die Gesamtausgaben in die GKV die vorab garantierte Gesamtzuweisung aus dem Gesundheitsfonds übersteigt, bei den Krankenkassen abgezogen.
Im Jahr 2016 ist – nach Veröffentlichungen des GKV-Schätzerkreises vom 14.10.2015 – das Ausschüttungsvolumen (Beitragseinnahmen plus Steuerzuschuss) des Gesundheitsfonds auf 206,2 Mrd. Euro beschränkt. Die Gesamtausgaben der GKV werden jedoch voraussichtlich bei 220,6 Mrd. Euro liegen. Somit sind 14,4 Mrd. Euro der Ausgaben nicht gedeckt und können nicht aus dem Gesundheitsfonds ausgeschüttet werden, wodurch der Anpassungsbeitrag negativ ausfällt. Er wird als mitgliederbezogener Pauschalbetrag auf die Krankenkassen umgelegt.
Der Gesundheitsfonds ist gesetzlich dazu verpflichtet, eine Mindesthöhe an Beitragseinnahmen, die sog. Liquiditätsreserve, vorzuhalten, und zwar mindestens 25% der durchschnittlich auf den Monat entfallenden Ausgaben des Gesundheitsfonds. Die Liquiditätsreserve soll dazu dienen, Einnahmeschwankungen im Jahresverlauf, nicht berücksichtigte Einnahmeausfälle und die erforderlichen Aufwendungen für die Durchführung des Einkommensausgleichs zwischen den Krankenkassen aufgrund von Zusatzbeiträgen zu decken.